Ein seltsames Instrument

Eine Imagination aus dem Jahr 1994

Die Geschichte meiner Idee zu einem Tablet-PC, sechzehn Jahre bevor es diesen gab.

Von Wolkem

An English version is available on my blog.

Die Geschichte beginnt im April 1994. Es war ein Samstagvormittag. Vor wenigen Wochen hatte ich mir einen MSDOS-Windows 3.1 Rechner mit dem neuen Pentium Prozessor von Intel gekauft. Nun stand das sündhaft teure Gerät auf meinem Schreibtisch. Ein Röhrenmonitor mit gewölbtem Bildschirm und unter dem Schreibtisch eine hohe, schmale, graue Blechkiste mit seltsamen Inhalten aus Plastikkarten und Lötmetall sowie weiteren kleineren Blechboxen, dies alles auf und an eine große Kunststofftafel montiert. Dem Mainboard, das alles in dieser Kiste miteinander verbindet, wie ich in einem instruktiven EDV-Kurs der Industrie- und Handelskammer erfuhr und auf dem die dort angebrachten Dinge in der Draufsicht wie eine futuristische Stadt mit ihren Straßen mir anmuteten. Und nahm mir in seiner gesamten EDV-Anlagengröße die Hälfte des Platzes an meinem Schreibtisch weg.

Ich saß an diesem Samstag in meinem Sessel in der gegenüberliegenden Zimmerecke mit Blick hin zu meinem Schreibtisch und seinen mir noch sehr fremden elektronischen Neuerungen darauf und darunter. Ein persönlicher Computerknecht also für das gepflegte Zuhause? Nun ja, noch lange nicht wirklich. Eher für den Bastelkeller und der Knecht war ganz klar ich als der noch unbedarfte Anwender. Die Sonne schien, der Frühling blühte, der Kaffee war alle und ich beschloss vor dem nächsten Kaffee zum Kiosk zu gehen und mir die Wochenendausgabe einer Tageszeitung zu holen. Ich kam mit dem Packen zurück und las das Feuilleton. Das Feuilleton war interessant und während ich las, taten sich mir einige Verständnisfragen auf, deren Beantwortung ich in der Enzyklopädie zu finden hoffte. Es kam mir in den Sinn, wie schön es wäre, dies mit meinem neuen Computer zu tun, ohne dass ich mich aus meinem Sessel erheben müsste, um zum Schreibtisch zu gelangen, dort den Start des Betriebssystems abzuwarten, die Compact Disc (oder war es sogar noch eine 3,5-Zoll-Diskette?) mit der darauf gespeicherten Enzyklopädie einzulegen, die Abfrage zu starten, um dann nach einer Weile zurück im Sessel die Lust am Artikel weiterlesen und die damit verbundene Freude an Bildung, ob diesem ganzen technischen tun verloren oder vergessen zu haben. Zunächst war hier freilich der Spaß an der Sache mit der noch relativ neuen Technik jetzt auch für den Privatmenschen. Dann kam der praktische Vorteil hinzu, das Gelesene mit dem Computer zu bearbeiten, also mir Notizen in digitaler Form anfertigen zu können. Damit wesentlich übersichtlicher und lesbarer, auch in schöner Typografie und sogar mit Farbe, als in Eile handschriftlich in mein Notizbuch gekritzelt. Praktisch auch deswegen, da somit relativ gut wieder auffindbar – abgelegt wie abgespeichert – in der digitalen Schublade, der Festplatte, die im Blechgehäuse tuckerte, summte und klickte oder auf der leicht transportablen Diskette, ein noch etwas formatig größerer Vorläufer des sehr viel späteren USB-Sticks. Praktisch auch anbei zusätzliche Information abzurufen, was den bald sich etablierenden Internet beziehungsweise meine derweil erste Quelle die Enzyklopädie auf Datenträger meint. Zusätzliches Wissen, das ich zum Verstehen des Gelesenen benötige und ungern in einem gedruckten Lexikon nachschlagen möchte, denn ich müsste dann aus meinem Lesesessel aufstehen, das Lesematerial beiseitelegen, um blätternd den Verlinkungen, damals noch ein textueller Querverweis und eben kein Hyperlink als elektronischer Sprungverweis, der Enzyklopädie zu folgen. Was zu der Zeit meiner Rede eine schlimme händische Hin- und Herblätterei im meist an Kilogramm schwerem Druckwerk bedeuten würde und viel Zeit mir nehmen würde, vermutlich einen guten Teil meines freien Nachmittages.

Ich hatte mit meinem neuen Computersystem außer dem obligatorischen Diskettenlaufwerk für die 3,5-Zoll-Diskette – eine flexible, magnetische, runde, im Durchmesser wenige Zentimeter große und mit Eisenoxid beschichtete Polyesterscheibe, die eingeschlossen in einer quadratischen schwarzen, grauen oder weißen Kunststoffhülle liegt und durch eine mechanisch verschiebbare metallene Verschlussplatte der Leselichtschranke im Diskettenlaufwerk Zugriff auf die Daten der Magnetscheibe gewährt – auch ein CD-ROM-Laufwerk erworben, zusammen mit den auf fünf bis sechs Disketten abgelegten Programmen (genau besehen war es ein umfangreiches Programm: MS-DOS 5.0 als Betriebssystem und die grafische Benutzeroberfläche Windows 3.1), die allesamt das Computersystem verwendbar zu machen versprachen und den Bildschirm und die Augen mit Farbe füllen sollten. Darunter eben auch eine Compact Disc, kurz CD genannt, die in das CD-ROM-Laufwerk einzulegen ist, mit einem darauf abgespeicherten Lexikon oder besser gesagt eine umfangreichere Enzyklopädie mit bis zu fünfzigtausend Artikeln in den späteren Jahren ihrer Publizität durch Microsoft (Quelle: Wikipedia, Encarta), was ich bislang in dieser Art nur in gedruckter Form und vorbildlich vom Brockhaus Verlag, der Brockhaus in mehr als zwölf Bänden, aus der städtischen Bibliothek kannte. Die Microsoft Encarta, die erste Ausgabe im Jahr 1993, so glaube ich in der Erinnerung, war eine für damalige Verhältnisse sehr nach der Menge der darauf befindlichen Daten volumige, fünfhundert Megabyte starke CD als die digitale Enzyklopädie der Wahl für den bildungsbeflissenen Privatmenschen. Erworben hatte ich sie in einem der Computershops für einhundert Deutsche Mark (DM), die Währung vor dem Euro (€). Kleinere, oft verräumte Läden in den Stadtvierteln von Kopier- und Schreibware bis Buchhandlung, die neuerdings neben den noch seltenen größeren Computergeschäften im Zentrum nun mit Zubehör von Diskette, Druckpatrone & Co und tragbarer EDV wie Laptop und PDA ihren bisherigen Warenbestand um das Digitale erweiterten und in den Jahren nach dem Millennium wegen des im etablierenden Internet sich ausbreitenden Onlinehandels so still wie eingefunden zum fast ursprünglichen Sortiment zurückkehrten. Praktisch wäre es doch, dachte ich mir ahnungslos all dieser Dinge und nippte an der Kaffeetasse, gleich mal nachschlagen zu können, was das Lexikon Gebildetes zu dem Feuilleton zu sagen hat, das ich gerade über Don Quichotte von Miguel de Cervantes, ein spanischer Autor der Weltliteratur, las. Sinnvoller wäre es gewesen, über Götz von Berlichingen zu lesen, der letzte Ritterganove, der die Fehde zum Beruf hatte, aber dieser Artikel befasste sich nun mal mit einer traurigen Gestalt. Ich stellte mir den in meiner geraden Jetztzeit noch unerreichbaren Zustand der Computernutzung so vor. Ich säße in meinem Sessel und blätterte in einer Zeitung in einem handlicheren Format als dem Nordischen, dem gängigen Format der Tageszeitung, die ich gerade las, und deren Unterschied zu einer sogenannten klassischen Zeitung, also einer Zeitung aus Papier, darin bestünde, elektronisch und digital zu sein. Ein Computer mit Bildschirm aus einem Guss, die Computerelektronik und Platine direkt unterhalb des Bildschirms montiert, nebst einem CD-ROM-Laufwerk für die Enzyklopädie. Flach müsse das Gerät sein, so flach gebaut wie nur möglich. Ich dachte an solche Dinge, die damals in der Technologie im Umlauf waren, wie Nanotechnologie und Newton-Computer. Also ein Newton, die Nachahmung ist der Herr aller Dinge, zunächst die Kopie und dann der Marktführer mit erweiterter Idee. Mein seltsames Instrument – mein Sessel stand unmittelbar neben meiner Musikanlage für das Hören von klassischer Musik und so gab ich meiner Idee den Titel – müsse flach sein, irgendwie nanotechnologisch, das hieße kleiner als fünf Zentimeter in der Dicke. Der Bildschirm sollte, ich schielte zwei Jahre später in der Nachbereitung meines Einfalls auf ein ähnlich einer geklebten Broschur und mit Faden gebundenes Bildungsbuch in festem und mit Glanzfolie überzogenen kartonierten Einband, buchtechnisch ein Hardcover, in etwa elf Zoll Diagonale betragen. Ja und leicht sollte es sein. Nicht wie ein schwerer Wälzer, den ich nur auf dem Küchentisch aufgeschlagen lese, da sein Inhalt wie sein Gewicht eher dem morgendlichen Körpertraining Genüge tut.*1 Ich machte handschriftlich mit dem Kugelschreiber eine Skizze in mein papierenes Notizbuch. Die Skizze ging mir mit den weniger wichtigen Notizen meines Tagebuches in späteren Jahren verloren, sodass mir nur eine mit Microsoft Word erstellte digitale Zeichnung aus dem Jahr 1997 blieb, die ich unterhalb dieses Aufsatzes anfüge. Das erste Tablet, der erste Tabletcomputer erdacht von einem kompletten Laien fern jeglichen Zugangs zu technischen Details und Patentinformationen war geworden. Ich schüttelte den zu langen Ärmel meiner Strickjacke, ob dieses netten Einfalls und nannte meine Imagination „Tableau“, was in Österreich, in der Schweiz und in Frankreich Tablet heißt. Genau die richtige Ablage für meine Anmutung nach Wissen und Bildung nebst dem Geist der Kaffeetasse. Wir schreiben den April 1994, ein Samstag mit freundlichem Sonnenschein und Frühlingsgefühlen.

*1 Etwas später in den Jahren, aber noch in den ausklingenden Neunzigern vor dem Jahrtausendbreak, dem Millennium (ein aus Mangel an Gelegenheit selten verwendetes Wort), formulierte ich den Begriff des Sessellesers, engl. Chairreader, und den Begriff Schreibtischleser, engl. Deskreader. Jeder der Begriffe verdeutlicht eine auch mental bedingte unterschiedliche Handhabung eines Tablets. Der Sesselleser ist ein Denker, Visionär und literarisch unterwegs mit seinem Tablet. Er benötigt die, nun ja, fast meditative Haltung eines Lesenden im Sessel oder auf der Couch. Aufrecht sein Rücken, die Arme mit dem leichten Tablet in Händen auf das überkreuzte Bein gelegt. Der Schreibtischleser entspräche hingegen dem Büroarbeiter der heutigen Zeit am Schreibtisch vor dem Bildschirm. Beide Haltungen stehen für eine unterschiedliche Herangehensweise an Dinge, die mit einem Tablet gemacht werden können und den damit verbundenen Ergebnissen. Die Vorarbeit im Sessel und die Reinarbeit am Schreibtisch. Das mentale Erfassen wichtiger Inhalte eines digitalen Dokuments mit dem Tablet und die Entscheidung in der Durchführung am Schreibtisch-Bildschirm. Im Sessel konzentriert wie am Schreibtisch aktiv.

Epilog

Im Jahr 1997 entschloss ich mich, meine Idee und Anwandlung an eine im Informationssektor weltweit aktive, marktführende Firma zu schicken, um diese auf den neuen eben einen Weg zu meinem Gadget hinweisen zu wollen. Meines bescheidenen Wissens nach war bislang niemand auf den Einfall gekommen, einen Personal Computer zu kreieren oder in meinem Fall zu visualisieren, der handlich und von der Software her wirklich persönlich von seinem Anwender in seinem Sessel sitzend oder von der Couch weg so benutzt werden kann, als lese, schaue, notiere und blättere dieser mit seinem Computer bzw. dem Tablet. Die Firma schrieb mir nach einigen Wochen, sie habe genügend Know-how, mir in meiner Angelegenheit helfen zu können. Nach etwas Nachdenken über meinen brieflichen Erfolg, entschied ich mich diese Imagination so zu belassen, wie es für meine Verhältnisse am vernünftigsten ist, nämlich als freundlichen Hinweis auf mehr. Und damit entging ich glücklicherweise dem damals herrschenden Aufbruchsgefühl, dass jeder als Pionier mit schlauem Kopf in diesem für die Kultur nun seit weniger einem Jahrzehnt allgemein zugänglichen informationstechnischen Bereich mitmischen kann, denn es waren noch einige ökonomische Nischen dieses, weil kulturell neu, besonderen wirtschaftlichen Ökosystems unbesetzt und die Tragödie blieb für mich damit ungeschrieben. Ich verblieb dankend und verfolgte den Lauf der technischen Entwicklung mit Spannung bis in das Jahr 2010 mit dem im Januar von Steve Jobs vorgestellten ersten im Alltag brauchbaren Tabletcomputer, dem iPad von Apple, als ein Meilenstein in der kommerzialisierten Computertechnik. Und folge weiterhin bis heute dem Fortgang der technischen Evolution zu den faltbaren Geräten, die gerade im Januar und Februar 2019 – mit zunehmendem Markterfolg und bereits technisch ausgefeilter in 2023 – als faltbares Smartphone, das Foldable, die Erweiterung und den zukünftigen möglichen vollständigen Ersatz der im privaten und im verwaltenden Alltag verwendeten Tabletcomputer andeuten. Mein seltsames Instrument, eine frühe Vision von Zukunft, damit den Menschen für immer in seinem Alltag begleiten wird.

Mein Tablet Entwurf aus dem Jahr 1994 bis 1997. Copyright by Wolkem at Vivaldi.net, 2023
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Entschuldigung: Der Autor ist kein Lektor, auch kein Germanist, überhaupt macht ihm das Schreiben Mühe und es ist nicht sein Beruf. Eher waren es Umstände, woher auch immer, die ihn zur Niederschrift drängten und so schrieb und korrigierte er über drei Jahre von 2018 bis 2023, um seine Idee zu erzählen, die ihm vor dreißig Jahren einfiel. Der veröffentlichte Text ist sicherlich nicht gänzlich orthografisch fehlerfrei.

NOTE: I ASSURE THAT THIS TEXT WAS FORMULATE ENTIRELY WITHOUT THE AID OF ANY ARTIFICIAL INTELLIGENCE. * Created with Vivaldi Browser in Vivaldi.Net WordPress Editor. Wolkem_Blog / March 2023

Kleine orthografische Korrektur: 28.11.2023

Ein seltsames Instrument – Eine Imagination aus dem Jahr 1994 by Michael Wildner (Wolkem_Blog Vivaldi.net) is licensed under Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 International

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